Kategorie: Furchentexte

Kicker-Cover: Was sehen wir?

Kicker um 2023, Öl auf Leinwand, unsigniert, Neues Museum Nürnberg

Schauen wir gemeinsam auf das kicker-Cover mit Nagelsmann und Tuchel, so stellen wir fest: wenig Inspiration, aber solides Handwerk. Was steckt also drin in diesem Bild?

Zunächst die Frage, die am Anfang jedes kulturwissenschaftlichen Popkultur-Seminars durch den Raum stinkt: Was sehen wir? Wir sehen zwei Männer im Porträt, die hinsichtlich Farbe und Mimik im Kontrast zueinander stehen. Ihre Köpfe sind zwar mit der gleichen Größe bedacht, doch steht die Person links bereits hinter der Schulter der Person rechts. Und während Nagelsmann mit einem Blick nach oben bereits fragend und staunend das Himmlische erwartet, schaut uns Tuchel mit dem selbstsicheren Grinsen eines Wahlkreissiegers von Barmbek-Uhlenhorst an.

„Anfang und Ende“ funktioniert indes als geschickte Anspielung auf das malerische Oxymoron „Lebbe geht weida“ des Künstlers Dragoslav Stepanović. Links zudem der ikonisch geöffnete Mund von Edward Munchs „Der Schrei“, rechts der selbstbewusste, aber nicht überhebliche Blick der Mona Lisa. Auch farblich wurde penibel auf Polarität geachtet. Wird Nagelsmann mit der Ästhetik einer missglückten Traueranzeige beschenkt, badet Tuchel in den adaptierten Worten Andi Möllers: Sepia oder Valencia, Hauptsache Wärme!

Doch was wissen wir Typen aus der Kurve schon von Gestaltung! Daher reichten wir das Cover an den Experten und Grafikdesigner Julian Hennemann weiter, der uns gerne auf die Sprünge half: „Boah, ey, Montag, ich bin für so ein Quatsch noch nicht ganz… Wochenende war nicht ohne. Aber ja, ganz ehrlich – da passiert ja nicht viel. Klar, ich weiß sofort, worum es geht, aber mehr auch nicht. Technisch gesehen super freigestellt und alles schön in Szene gesetzt. Auch von der Bildkomposition her alles sauber, aber ich hätte halt nicht solche Riesenköpfe genommen. Und wenn doch, dann im Face-Off-Stile von John Travolta und Nicolas Cage. Ja, das wäre es bei mir geworden: im Körper des Feindes!“

Von Lodda bis Kahê

Alles klar, Leute, bitte jetzt ganz genau zuhören, denn Wissen ist schließlich Macht! Heute vor 99 Jahren wurde Athletico Paranaense gegründet. Den Verein kennt man nicht nur durch seinen offen rechten Support für Jair Bolsonaro, sondern vor allem durch Lothar Matthäus, der bei den Schwarz-Roten von Januar bis März 2006 als Trainer glänzte und davon einen Monat Sperre wegen Schiedsrichterbeleidigung absaß. Beeindruckend!

Skandal! Ein Deutscher in Brasilien

Unvergessen natürlich auch Paolo Rink, der schon in der Jugend für Paranaense einlochte und 1997 von den Spähern Reiner Calmunds ins ähnlich schöne Leverkusen mitgenommen wurde. Heute betreibt Rink dort eine Farm, aber das ist eine andere Geschichte. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass er genauso viele Länderspiele für Deutschland wie Ligaspiele für Energie Cottbus absolvierte (13) und dann nach einem Jahr mit Ede Geyer verständlicherweise ins warme Nikosia floh.

Aktueller Paranaense-Coach ist Brasiliens Weltmeistertrainer Luiz Felipe Scolari. Der trainierte übrigens schon Michael Ballack beim FC Chelsea, der wiederum unter Otto Rehhagel zu seinem ersten Bundesligaspiel kam, der wiederum mit Griechenland bei der EM 2004 gegen Portugal im Finale gewann, das damals wiederum von Scolari trainiert wurde. Das gehört aber eher in der Kneipe auf den Tisch.

Viel wichtiger ist zu wissen, dass die Heimstätte mal Kyocera-Arena hieß und zwar im gleichen Zeitraum, als Kyocera Hauptsponsor von Borussia Mönchengladbach war. In diesem Fohlen-Trikot lief damals auch der brasilianische Sturmtank Kahê auf, der von Ponte Preda kam, das wiederum mal von Paulo César Carpegiani trainiert wurde, der wiederum mal Trainer von Paranaense war. Das ist aber eine andere Geschichte.

„Packen sie es, machen sie aus Wembley Woodstock“

+++ Spoiler: Es folgt ein Text voller Fisch-Phrasen, Meertaphern und abgedorschenen Kaalauern +++

Wir gestehen vorab: wir lieben Grimsby. Obwohl das nicht so ganz richtig ist. Korrekt wäre zu sagen: wir lieben die Fans von Grimsby. Und die werden heute alle so heiß sein wie frittierter Fisch. Denn als erster Viertligist in der 152-jährigen Geschichte des FA Cups schlug Grimsby Town FC fünf höherklassige Teams und steht im Viertelfinale. In der letzten Runde hatten die Mariners mit einem 2:1-Sieg beim Erstligisten Southampton ein Wunder vollbracht. Mit an Bord hatten sie 4000 durchgeknallte Fans, denen 720 Km an einem Mittwoch eine Selbstverständlichkeit waren. Wie sich das anfühlte? Seht selbst via Twitter: https://t1p.de/kvsgq

Nun scheint dies auf den ersten Blick nicht so unglaublich und ungewöhnlich. Der Pokal hat schließlich seine eigenen Netze und Wunder gibt es immer wieder. Doch schaut man sich Grimsby und seine Fans unter der Lupe an, erkennt man elementare Unterschiede zu vielen anderen kleinen Fischen. Denn was oberflächlich als das klassische Märchen eines Underdogs erscheint, ist unterhalb des Meeresspiegels eng mit einer Geschichte des Verlierens abseits von Fußballplätzen verbunden. In Grimsby zu leben heißt landesweit dem Klischee der Zahn- und Ahnungslosen zu entsprechen. Außenseiter zu sein kennen die Grimsbarians also nicht nur aus dem FA Cup.

Es ist aber nicht der Millwall-Mittelfinger, mit dem gegen Gott, West Ham und die Welt gekämpft wird. „No one likes us, we don’t care“ ist nicht das Bild, das die Fans der Mariners verkörpern. Stiernacken und Schlagring weichen hier aufblasbaren Fischen (und Krabben, Dildos, Kakteen, Rollatoren). Außenseitertum wird hier nicht mit nacktem Hass sondern Humor gefüttert, sich selbst nicht ernst sondern aufs Korn zu nehmen, ist die einzige Lösung. Diese Selbstironie ist das Rezept für den Alltag, denn während sich anderswo im britischen Fußball alles um die Frage nach Optimierung dreht, geht es für viele Fischer der 90.000-Einwohnerstadt ums Überleben.

Auch deshalb wirkt Fußball in Grimsby wie eine Wundsalbe. Und die Wunden könnten nicht größer sein. Einst war Grimsby die bedeutendste Fischereistadt des Königreichs, in den 50er Jahren gar der größte Fischerhafen der Welt, die Fischer nannte man „Three Day Millionairs“. Und die gaben ihr Geld nicht in London oder am Strand von Brighton aus, wo Lords und Ladies flanierten, sondern ließen es in Grimsby. Stadt und Bürgern ging es prächtig, Stolz und Identifikation gaben sich die Flosse. Was für eine Zeit, petri geil!

Und heute? 70 Prozent der Grimsbarians stimmten für der Brexit, obwohl die Menschen dort traditionell die Labour-Partei wählen und die Gegend in Großbritannien als „Rote Wand“ bekannt ist. Boris Johnson machte sich den Frust der Fischer zum Nutzen: endlich nicht mehr abhängig sein von Brüssel, dachten sich viele auf Grund gelaufene Seelen. Inzwischen ist die Stimmung wieder anders, von den Tories fühlen sich viele betrogen und benutzt. Dem Versprechen des Aufschwungs folgten Ernüchterung und Aufgabe, Alkoholismus ist ein trauriges Thema. 2019 wurde Grimsby zum „worst place to live in the UK“ gewählt. Wer in dieses Thema tiefer abtauchen möchte, dem empfehlen wir ein Arte-Doku über die Fischer von Grimsby: https://t1p.de/actyy

Umso mehr ist nachvollziehbar, welch wichtigen Platz der Fußball hier einnimmt. Das kennt man in Deutschland aus dem Ruhrgebiet, wo Fußball früher zwischen all den Schloten über Generationen hinweg die einzige Sehenswürdigkeit war. Und was sagen die Pöttler heute noch gerne wie heimatliebend? Woanders is‘ auch scheiße!

Natürlich hingt der Vergleich ein wenig, doch ob Zechenschließungen oder kaputte Fischernetze: Strukturwandel bringt nicht nur Chancen, sondern für sehr viele Menschen auch Leid. Dennoch ändert es zwar das Leben der Menschen, doch nicht ihre Liebe zur Heimat. Das hat auch Kollege und „Junge aus Castrop“ Ron Ulrich erlebt, als er 2020 für eine 11Freunde-Reportage ein Wochenende in Grimsby verbrachte. Kurz vor dem heutigen FA-Cup-Highlight fragten wir ihn rückblickend:

Ron Ulrich, als Sie damals aus Grimsby zurückkehrten, grinsten Sie drei Tage lang durch. Was hatten die Menschen dort mit ihnen gemacht? „Was mir am englischen Fußball und an Grimsby speziell immer so imponiert, ist diese Natürlichkeit, mit der sich alle selbst auf die Schippe nehmen: We only sing when we‘re fishing / clap, clap fish oder der sensationelle Titel des Fanzines Cod Almighty (allmächtiger Kabeljau). Hier in Deutschland reagierten auch viele etwas befremdlich auf die Schilderungen und Fotos meines Besuchs. Doch die Leute in Grimsby haben es sich übersetzen lassen und fanden es total super. Grimsbarians sind einfach sehr herzlich, selbstironisch und ekstatisch beim Feiern. Wenn sie es wirklich packen, machen sie aus Wembley Woodstock!“ Seinen Ritt könnt ihr hier in Gänze nachlesen: https://t1p.de/jkmhj

Heute werden erneut die Segel gesetzt. Der Gegner kommt wieder aus Liga eins und heißt Brighton & Hove Albion, wieder sind es 720 Km, nur die Zahl der Grimsbarians wird noch größer sein. Der daheimgebliebene Rest wird ab 15:15 Uhr die Pubs in Grimsby füllen oder an der Mündung des Humber sitzen und zum Klabautermann beten. Für Halbfinale, Fisch und eine bessere Zukunft.

Nicht für dumm verkaufen lassen

Seit Max Eberls Ausscheiden aus dem Profigeschäft („Ich will mit diesem Fußball nichts mehr zu tun haben“) und dem merkwürdigen Wechsel zu einer seiner „Traumvereine“ Red Bull Leipzig, haben wir uns jeder Kommentierung entzogen. Zu sensibel ist die Gesundheit eines Menschen, zu spekulativ die Interpretation seiner Beweggründe. Kurzum: Wie es Max Eberl geht, geht uns nichts an. Und dass Max Eberl auftritt, als „hätte er eine Gehirnwäsche hinter sich“, ist nicht nur typisch FOCUS online, sondern auch gefährlich. Und soll das auch niemand mit der Grauzone begründen, Eberl sei schließlich eine Person des öffentlichen Lebens.

Trotzdem lässt sich konstatieren, dass kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine Eberl-Aussage für Fremdscham, Unverständnis und Lacher sorgt. Umso mehr denkt man: Ok, er fährt eben einen anderen, sehr strangen Film, doch warum steht er immer wieder vor jenen Mikrofonen, die ihm doch ach so böse zusetzten? Ausgerechnet der Bild schilderte er, wie sich Leere anfühlt, im Dopa verteidigt er das wechselseitige Bettgehüpfe von Spielern zwischen Leipzig und Salzburg. Der Druck der Medien? Sind natürlich die Medien schuld, von Selbstreflexion keine Spur. Und nicht nur das, denn dass „Leipzig nochmal über Gladbach (ist)“, sollte dann doch jeder Fohlen-Fan mit einem Ellbogenhieb wissen.

Nun wurde er als Studiogast vom ZDF für das aktuelle Sportstudio ausgeladen. Der Grund: Eberl will nicht, dass ihm Fragen zu seinem Ex-Klub Borussia Mönchengladbach gestellt werden und „bestimmte Themen“ ausgeklammert werden sollten. Warum nicht? Weil laut Eberl alles dazu gesagt sei. Mehr kann er nicht offenbaren, welche Denke er von Red Bull in nur kurzer Zeit übernommen hat: Mit wem wir reden, bestimmen wir, was wir gefragt werden, bestimmen auch wir. Diese Firmen-DNA ist abseits der Stadtgrenzen Leipzigs hinlänglich bekannt. Wann etwas vorbei ist, bestimmt also Max Eberl im Doppelpass oder via Leipziger Volkszeitung und eben nicht Fans von Borussia Mönchengladbach oder gebührenzahlendes Fernsehpublikum, das ein Recht auf kritische Berichterstattung hat. Wie Eberl eben selbst sagte: „Man soll sich immer bewusst sein, was man da mit dem Menschen und seinem Umfeld tut.“

Es ist daher vollkommen richtig, diesem Wunsch nach Selbstdarstellung nicht zu entsprechen. Wo kämen wir da hin? Max Eberl will sich die Welt machen, wie sie ihm gefällt. Das kann und soll er privat in voller Freiheit auch tun, ist aber mitnichten auf seine aktuelle Funktion zu übertragen. Ganz im Gegenteil: verlieren wir den Wunsch nach Aufklärung darüber, was in den Vereinen los ist und was Einzelpersonen in ihnen betreiben, ist jede Identifikation und jeder Stadionbesuch ad adsurdum geführt. Dann würde man endgültig der abgelutschten Phrase entsprechen, nicht mehr Fan, sondern nur noch Kunde zu sein. Deshalb gilt es dagegen anzugehen und zu sagen: So nicht, Max Eberl! Denn wie sagten Sie doch bei Sky, als Sie vehement Strafen für PSG forderten: „Wir brauchen uns nicht für dumm verkaufen lassen.“

Der größtmögliche Mittelfinger

Mit den 104 statt 64 WM-Partien ist auch dem letzten Highlight-Gefühl der Zahn gezogen. 48 Teams, 40 Tage, Wahnsinn. Reden wir an dieser Stelle (noch) nicht darüber, welche organisatorischen und ökologischen Folgen das haben wird und wieviele Menschen, ob Fan oder Stuff, tausende Kilometer überbrücken müssen. Schauen wir nur mal auf den Hauptgrund der nun nochmal enorm steigenden Fernsehgelder und den damit nochmal gesteigerten Umsatz für die FIFA, darf einem schon schlecht werden.

Und so unterscheidet sich das Grundprinzip von Katar zu Mexiko/USA/Kanada kaum: erstmal im maximal profitablen Sinne entscheiden, die Sintflut danach dann mit Greenwashing und Propaganda gegen kritische Stimmen kleinhalten. FIFA bleibt also in puncto Philosophie und Struktur FIFA im engsten Sinne und das ist gegenüber sämtlichen Ansätzen à la „Wir haben verstanden“ der größtmögliche Mittelfinger.

Das wiederum ist seit Havelange der endgültige Beweis dafür, dass die FIFA nicht anders kann, als ihrem rein kommerziellen Naturell zu entsprechen. Eine Reform ist nicht mehr möglich – für die gesamte Fußballkultur eine ernüchternde Tatsache.

Mit dir fing alles an

Haben jetzt mal „Die Figo-Affäre“ auf Netflix geschaut. Die Hoffnung, kein Hochglanz-Porträt mit Drohnenflügen über Anwesen und Superzeitlupen zu sehen („Kroos“, „Schweinsteiger“), wurde nicht zerstört. Mehr noch: Wer glaubt, nur ein Retro-Dokument für Nostalgiker präsentiert zu bekommen, wird eines Besseren belehrt.

Die Doku schafft den Transfer zwischen den Anfängen Florentino Pérez‘ und dessen heutigen Super-League-Ambitionen. „Luis, mit dir fing alles an“, ist ein wichtiger Satz in den 100 Minuten, die durchaus aus weniger hätten sein können. Figo ist dabei das Instrument, um die Verhältnisse in Spanien wieder gerade zu rücken. Die eigentlichen Protagonisten sind in ihrem Streben nach Macht Egomanen, lügen und hintergehen. Und inmitten dieser auch medialen Schlacht reißen die alten Fragen nach Identität auf. In Madrid handeln sie wie die Schergen Francos, in Barcelona basteln sie hochemotional an neuen Helden der Unabhängigkeit. Dabei rückt auch Pep Guardiola als bester Freund Figos in ein interessantes Licht.

In Summe lohnt sich der Klick also, weil die Doku vom gängigen Schema des Porträts Abstand nimmt und stattdessen Systeme offenlegt, die den heutigen Transferwahn gleich miterklären.

2. Liga: Prognosen zu Prognosen

Kickoff am Betze. Lautern empfängt Hannover. Glaubt man den Vorberichten, zieht der Sieger bereits mit sechs Punkten weg. Das passiert aber nicht, weil Computer Bild 1:1 getippt hat. Glaubt man den Vorberichten, beginnt heute übrigens nicht mehr die beste, sondern „härteste Liga aller Zeiten“.

Und überhaupt Vorberichte: demnach ist der HSV wegen fehlender Präsenz anderer Raptoren so unter Druck wie seit Díaz in Karlsruhe nicht mehr. Wenn nicht jetzt, wenn daaaaaaargh und so Müll, und der Glubb steigt auf (11 Freunde), während H96 den Sprung ins Oberhaus verpasst – das sagen zumindest 51% einer kicker-Umfrage. Terodde prognostiziert derweil Armina und Fortuna hinter dem HSV. Darmstadt wird laut sport.de-Umfrage übrigens mit einer Wahrscheinlichkeit von 8% Meister. Für den Abstieg bietet Tipico mit Quoten zwischen 2,30 und 2,70 Regensburg, BTSV und KSC an. Masaya Okugawa prostet man als Torschützenkönig mit einer 60,0 zu.

Völlig klar: der Himmel über Kiel

Wichtig ist auch zu wissen, dass Alois Schwartz in Sandhausens elfter Zweitligasaison „Demut“ fordert (Zeit Online) und Christian Titz mit seinen Magdeburgern das instabile Projekt „Restraumverteidgung“ angehen will (sportschau.de).Bei all den Unsicherheiten tut Stabilität gut. So wissen wir Dank der Leserschaft von HLSports zumindest sicher, wo Holstein Kiel vor der Rückrunde landen wird (siehe Grafik).

Ein Schlückchen Sekt vielleicht?

Es gab ja schon immer Dispute zwischen Fragestellenden und Spielenden, das ist nichts Neues. Das Mertesacker-Interview zum Beispiel steht dafür stellvertretend. Aber, und darin liegt der feine Unterschied, rutscht Toni Kroos ins Persönliche ab: „Du hattest 90 Min…“ ist sinngemäß nichts anderes als: Du machst dein Job nicht richtig, ich bin gerade CL-Sieger geworden, also lass mich in Ruhe. So ist es nicht verwunderlich, dass Kroos für seine Reaktion nicht nur gefeiert, sondern auch kritisiert wird: weil er in diesem Moment über den Dingen steht.

Und so eine Reaktion ist ja nie ohne Kontext zu sehen. Da ist der perfekte Fußballer, das „Hirn“ eines Spiels, wie in spanische Zeitungen gerne nennen, der immer abwägende, rationale Vollprofi. Da ist aber eben auch der oft zitierte „Familienmensch“, dem Privatheit heilig ist, der aber eine Doku über sich und eben diese Privatheit drehen lässt und nach Abpfiff gegen Liverpool die Familie ins Rampenlicht stellt. An Punkten wie diesen denkt man sich dann kurz, dass irgendwas nicht zusammenpasst und alles, inklusive Familie, Teil einer Inszenierung ist. Ein Kumpel schrieb humorvoll, aber irgendwie auch richtig: „Das wäre dem Raab nicht passiert!“

Und es ist einfach herrlich, wie auf einem Mitschnitt bei den Feierlichkeiten in der Kabine zu sehen ist, wir er ein Sektglas von Eden Hazard strikt ablehnt. Alle am Springen und Ausrasten, doch ein Schlückchen Sekt ist null möglich, weil da immer Kontrolle und Contenance herrschen und für sein Ego auch bewahrt werden müssen. Oft hieß es nach dem ZDF-Interview im Netz, Kroos‘ Verhalten sei unprofessionell gewesen. Das stimmt so nicht: Was hier sichtbar wurde, ist nicht die fehlende Professionalität, sondern seine Über-Professionalität. Durch die Fragen, die nicht Begeisterung und Glückwünsche ausdrückten, fühlte sich Kroos in genau dieser angegriffen. Indem er persönlich wurde: Klar, dass du aus Deutschland bist…du hattest Zeit für gute Fragen usw. In dem Moment sieht er Kaben als unvorbereitet – was ihm selbst nämlich nie passiert. Und das fuchst ihn. Deshalb verlässt er kurz seinen Kokon.

Die Abfeierei im Netz war geradezu schizophren. Da wird plötzlich genau der, dem besonders bei DFB-Pleiten bei Turnieren fehlende Kanten und ein steriler Charakter vorgeworfen werden, zu einem „mit Eiern“, der sich „nicht alles gefallen lässt“. Und dass man einem so erfolgreichen Mann mit fünf CL-Titeln nicht solche Fragen stellen darf, ist hinsichtlich des exponierten Leistungsprinzips auch sehr, sehr deutsch. Das macht das Ganze fast schon eklig.

Man muss kein Fan von Nils Kaben sein, weil er oft und gerne süffisant daher- und dazwischenredet. Aber der Mann ist seit Jahrzehnten bei Olympia und Co. am Start und macht in der Sportberichterstattung letztlich auch nur seinen Job. Er hat es nicht verdient, als dummer Junge stehengelassen zu werden. Genau dafür sorgt Kroos aber in diesem Moment. Und das sagt sehr viel aus. Mehr als die Kroos-Doku allemal.

Der Kontaktsport des Stafylidis

Konstantinos Stafylidis bekommt nach seinem bösen Tritt gegen Freiburgs Roland Sallai also drei Spiele Sperre. Wir sagen: zu wenig – und müssen uns indes über den Einspruch des VfL Bochum doch sehr wundern. Dass der eigene Trainer auf die Aktion mit einem spontanen Scheibenwischer reagierte, steht stellvertretetend für die Bewertung der Szene. Dabei ist daran zu erinnern, dass der Name Stafylidis bereits in der Vergangenheit durch genau solche Aktionen Bekanntheit erfuhr.

Breel Embolo, damals 19 Jahre jung und bei S04 unter Vertrag, fand sich im Oktober 2016 nach einem Horror-Foul von Stafylidis im Krankenhaus mit Brüchen von Sprunggelenk und Wadenbein sowie Rissen des Syndesmose- und eines Innenbandes wieder. Nach mehreren Rückschlägen in der Reha stand bei Embolo zeitweilig der Status der Invalidität im Raum, das Karriereende war ein realistisches Szenario. Der Aufreger damals und noch ohne VAR: Stafylidis bekam lediglich die gelbe Karte. „Ich kenne den Spieler und weiß, dass er seine Gedanken nicht koordiniert. […] Absicht unterstelle ich ihm nicht – aber Dummheit“, kommentierte Schalkes damaliger Coach Weinzierl.
Wochen nach dem Foul und einer persönlichen Entschuldigung per SMS an Embolo machte der Grieche damals klar: „Wenn man die Bilder sieht, wird noch einmal deutlich, dass das keine Absicht, sondern ein Unfall war. So leid es mir tut, aber Fußball ist Kontaktsport, da passieren leider Verletzungen (…) Deswegen habe ich meine Spielweise nicht geändert.“ Nach solch einem Foul von „Kontaktsport“ zu sprechen, bedurfte schon damals fehlende Selbsteinschätzung und Demut.

Verstehen wir uns nicht falsch: Es geht hier um keine Hexenjagd, aber doch sehr wohl um die Frage, ob der Begriff des Wiederholungstäters vom DFB nur trocken nach Statuten, also bei mehrmaligen Platzverweisen angewandt werden, oder in einem Handlungsspielraum erzieherischer und präventiver Maßnahmen greifen sollte. Vielleicht würde Stafylidis ja dann seine Spielweise ändern.

M’Gladbach mit Schalker Dynamiken

„Der BMG-S04-Vergleich hinkt!“, schrieb uns ein User. Warum uns also die Entwicklung von Borussia Mönchengladbach an die des FC Schalke 04 erinnert? Die gleichen Dynamiken, die gleiche Selbstzerstörung, die gleichen Charaktere in der Mannschaft, die gleichen Ziele, die gleichen Vier-Jahres-Pläne. Und dann diesen hochprozentigen Mix aus Tradition und Historie auf den Schultern! Und Trainer, die dachten, den nächstgrößeren Schritt zu machen und jetzt allein dastehen. Und nach zwei, drei Niederlagen versuchen den Hals aus der Schlinge zu ziehen, indem man sich reagierend nach Gegner und Spieltag und Situation richtet. Mit einem Kader, bei dem jeder schon alles gespielt hat, aber jeder nur das eine spielen will. Und ein überforderter Aufsichtsrat, der hilf- und tatenlos zuguckt und nun vielleicht merkt, dass der sportliche Vorstand über die Jahre hinweg mächtiger wurde als man selbst. Und ein Wechsel von Managern, die entweder fliehen oder aber die Zeichen der Zeit erkannt haben. Und gestandene Spieler, die sich vors Mikrofon stellen und glaubhaft verzweifeln (Stindl, Stambouli). Und durchaus gute Fußballer, die dir aus einer 2:0-Führung auch ein 4:0 kredenzen, aber bei Rückständen versagen, sich selbst jedoch in der Champions League sehen (Plea, Raman, Thuram, Konoplyanka, Bénes, Bentaleb, Zakaria, Harit, Bensebaini, Schöpf, Oczipka, Elvedi, Serdar). Und diese internationalen Plätze, die so weit weg sind und mit denen man so fest kalkuliert hat. Pardon, spekuliert hat. Und Fans, die gedanklich gerade erst aus Europa zurückkommen. Und sowieso, dieses Geld, das plötzlich gar keins ist. Nur über eines kann BMG froh: kein Tönnies weit und breit.

Jetzt ihr. Sehr gerne.

Afrika-Cup: peinliche Berichterstattung

„Hahahaha“ ist so ziemlich alles, was gerade von vielen Sportberichterstattungen mit ihren Beiträgen zum Afrika Cup erhascht werden soll. Ja, da pfeift ein Schiri zweimal zu früh ab und ja, da wird dreimal die falsche Nationalhymne gespielt, doch was daraus hier im Westen gemacht wird, ist nichts weiter als die Herausstellung des Exotischen. Es schafft Stereotypen aus kolonialen Zeiten: Afrika kann sich nicht selbst organisieren, in Afrika herrscht keine Ordnung, Afrika fehlt der Ernst für Professionalität. Das Ganze läuft natürlich hervorragend mit Clickbaiting durch Teaser wie „Das ist wirklich mehr als peinlich!“ (SPORT1). Der Couch-Potato-Mob reibt sich da natürlich gerne die Hände: „Hahahaha! Diese Afrikaner!“ Die Dynamik in den Kommentaren: selbsterklärend wie widerlich.

Ist möglicherweise ein Bild von Text „sport1 SPORT1 8 Std. Das ist wirklich mehr als peinlich!“
Sport1 via Facebook

Um das klarzustellen: Es geht nicht darum, dass darüber berichtet wird. Es sind Nachrichten über ein großes Turnier und damit relevant. Doch geht es einerseits um die Verhältnismäßigkeiten zur sportlichen Berichterstattung und andererseits um die Art und Weise, wie Redaktionen mit der skurrilen Situation eines Fußballspiels einen ganzen Kontinent vor die Flinte spannen. Und das ist, im umgedrehten Sinn, auch typisch – typisch Westen nämlich. Das ist es, was am Ende eines Tages im Jahr 2022 peinlich ist.

Schrei nach Liebe: Danke MSV und VfL

Es ist ekelhaft und traurig, was beim MSV passiert ist. Viel wichtiger ist zu verstehen, dass es wahrlich nicht um „nur einen Typen“ geht, wie es in so vielen Kommentaren leider zu lesen war. Da schreiben weiße Menschen, dass dann „ja jeder Zuschauer ein Spiel abbrechen kann“. Das ist eine falsche Denke. Denn es ist egal, ob es einer oder mehrere sind, die Affenlaute und rassistischen Müll von sich geben. Es geht um die Gefahr, dass so etwas generell möglich oder (auch dank scheiß AfD) gar salonfähig wird.

Der Lob gilt an dieser Stelle allen Beteiligten, die sofort und richtig reagiert haben. Da überführen MSV-Fans den Täter, da rufen beide Fanlager gemeinsam „Nazis raus!“, da besprechen und entscheiden die Verantwortlichen beider Vereine, ohne Relativierung oder Abwägung, das Ende des Spiels, aus den Stadion-Boxen ertönt spontan „Schrei nach Liebe“ der „Ärzte“.

Das alles geht nur, wenn du als Club von grundauf so eingestellt bist, das kannst du nicht aus der Ablage holen. Obendrein in einer sportlich miserablen Situation. Wir waren gegen Verl als Hopper zu Besuch beim MSV. Dem Verein geht es schlecht, die Atmosphäre ist bedrückend, immer wieder Grlić-raus-Rufe, es roch regelrecht nach Abstieg in die Regionalliga. Inmitten dieses Schlunds völlig klar zu sagen ‚Nein, es gibt Wichtigeres als Fußball‘ mag von außen betrachtet vielleicht keine Heldentat sein, doch gebührt dem trotzdem Respekt. Auch danach klare, glaubhafte Worte. Der Täter wird angezeigt, im Nachholspiel möchten beide Vereine die Chance nutzen, um gemeinsam (!) ein Zeichen gegen Rassismus zu senden.

So muss die überwältigende Mehrheit zusammenhalten und handeln. Zögert nicht, wenn jemand im Stadion ähnlich auffällt. Schreckt nicht zurück, Kopfschütteln reicht nicht. Steht auf, tut etwas, entweder selbst, mit anderen oder mit Hilfe eines Ordners. Es ist egal, wie so etwas ausgeht. Es geht nur darum zu sagen: Nein, so nicht! Es muss jedem braunen Vollpfosten klar sein, dass dann Gegenwind kommt. Nazis raus – Im Stadion und überall.

Bilder und Spiele, die keine sein sollten

Auch ein Tag später fällt es schwer, zu den bangen Minuten um Christian Eriksen etwas zu sagen. Heute aufgewacht und der erste Gedanke war: er hat’s geschafft! Nur das zählt. Und so starten heute wahrscheinlich weltweit Menschen in den Tag, die gestern live vor den Fernsehern für Eriksen die Daumen gedrückt haben. Eriksen ist kein Einzelfall, sondern einer von vielen Spielern, die auf dem Platz das Bewusstsein verloren, kollabierten oder plötzliche Herzattacken erlitten. Patrick Ekeng überlebte das unter skandalösen Umständen nicht, bei Abdelhak Nouri wurden nach einem künstlichen Koma bleibende Hirnschäden festgestellt, die Liste lässt sich erschreckend weit fortführen. Davon zu lesen oder hören ist schlimm genug, es live mitzuerleben furchtbar. Wir können für uns nur sagen, dass wir so etwas noch nie direkt miterlebt haben, die Bilder werden wir nie mehr vergessen. Alles, über das man im Fußball einmal geschrieben, geschimpft oder nach einem 0:3 bei Minusgraden geflucht hat, ist plötzlich so weit weg wie Planeten. Bei anderen kamen wiederum sofort Erinnerungen hoch, so schrieb Altravita-Blogger und Italien-Experte Kai Tippmann gestern via Twitter: „Ich habe noch Horror von der Radioübertragung, als [Piermario] Morosini gestorben ist. Niemand braucht Bilder davon.“ Und damit wären wir beim ersten von zwei Themen, die in der Nachbetrachtung thematisiert werden sollten.

Béla Réthys Schweigen

Es ist unerklärlich, wie eine Regie in dieser Situation so lange und penetrant Bilder des am Boden liegenden Eriksen zeigen konnte. Das machte wütend und fassungslos zugleich. Im Netz wurden zurecht Beispiele zu vergleichsweise völlig harmlosen Bildern wie Flitzern und Pyrotechnik geknüpft, deren Übertragung sonst gezielt unterbunden wird. Der Gipfel des Unsäglichen war schließlich das Zeigen von Eriksens Ehefrau. Das war so ekelhaft, dass einem fast schlecht wurde. Hingegen hat sich das ZDF, in persona vor allem Béla Réthy und Jochen Breyer, im Ganzen sehr seriös verhalten und mit der Abschaltung der Übertragung angemessen reagiert. Ja, das hätte durchaus auch einige Minuten früher passieren können, doch sollte sich bei aller Kritik vor Augen gehalten werden, wie schwierig und fordernd ein solcher Job mitsamt Entscheidungen in dieser Situation ist. Dass Béla Réthy sich indes für Schweigen entschied und dies nachvollziehbar wie empathisch kommunizierte, unterstreicht dieses professionelle Verhalten. Béla Réthy wird oft ob seiner fußballerischen Expertise als Kommentator von „gestern“ kritisiert, darüber lässt sich streiten. Worüber sich nicht streiten lässt: Als Eriksen um sein Leben kämpfte, tat die Erfahrung und Stimme Réthys gut. Es sind jene Momente, in denen seriöse Berichterstattung sicht- und hörbar wird.

Spiel fortsetzen oder nicht?

Über einen zweiten Punkt wurde unter anderem in den sozialen Medien bereits gestern teils sachlich, teils haarsträubend debattiert und geurteilt: War es richtig, das Spiel fortzusetzen? Allein die Frage war für uns zu diesem Zeitpunkt eine absurde. Viel präsenter und logischer waren die Überlegungen, inwiefern ad hoc bezüglich Russland gegen Belgien entschieden werden und ob es mit der EM überhaupt weitergehen sollte. Als dann die Nachricht kam, dass sich beide Mannschaften auf eigenen Wunsch für die Fortsetzung der Partie geeinigt hätten, war das kaum zu glauben. Und das ist auch am Tag danach noch so. Wir schließen uns diesbezüglich klar den Aussagen Christoph Kramers und Per Mertesackers an: die UEFA hätte intervenieren und das Spiel abbrechen müssen. Doch klar ist auch: Es ist keine selbstverständliche oder gar leichte Entscheidung, dem Anliegen der Spielfortsetzung von Seiten der dänischen Mannschaft, insbesondere nach dem Austausch mit Christian Eriksen, nicht nachzukommen.

Kasper Hjulmand stellte indes noch einmal klar, dass es keinen Druck von Seiten der UEFA gegeben habe. Desweiteren schildert Hjulmand, dass sich die Spieler nicht vorstellen konnten, die Partie am Sonntag um 12 Uhr nachzuholen: „Es war besser, es gleich zu machen.“ Kasper Schmeichel erklärte dabei vor allem das Problem, dass „die Spieler sich sicher waren, heute nicht mehr schlafen zu können. Morgen zu spielen, hätte die Situation noch schwerer gemacht.“ Im Nachhinein muss man resümieren, dass bei allem Glück im Unglück ein Reihe unglücklicher und falscher Entscheidungen getroffen wurden. Simon Kjaer bat um seine Auswechslung, weil ihm als enger Freund Eriksens ein Weitermachen unmöglich war. Ein stellvertretendes Beispiel dafür, wie schwer die Last in Köpfen und Füßen der dänischen Mannschaft nach Wiederanpfiff war. Die Entscheidung hätte schützender Natur sein sollen: bis hier und nicht weiter. Man stelle sich eine weitere schwere Verletzung oder die Nachricht eines gesundheitlichen Rückschlags bei Eriksen vor. Man mag gar nicht dran denken.

Innehalten statt Urteilen

Was uns bei aller Emotionalität jedoch auch umtrieb, waren die schnellen Urteile im Netz. Noch bevor klar war, dass die dänische Mannschaft um eine Fortsetzung bat, war die UEFA bereits der Buhmann. Das macht die Entscheidung der Spielfortführung nicht besser, doch rückt sie mit etwas Abstand zumindest in ein anderes Licht. In einer solchen Situation direkt Schuldige auszumachen und sich binnen Minuten auf digitalen Wegen darüber zu äußern, was falsch oder richtig sei, ist schlichtweg unangebracht. Besonders absurd war, dass einige User*innen in ihrer Argumentation pro Abbruch die Situation mit den Anschlägen von Paris oder dem Attentat auf den BVB-Mannschaftsbus verglichen, was nicht einmal ansatzweise Äpfel und Birnen sind zu der gestrigen Situation im Kopenhagenener Stadion. Ganz besonders da gilt es doch zu differenzieren. Niemand, außer den unmittelbar Beteiligten, konnte sich in diesen Augenblicken ein klares Bild von der Situation machen. Selbst Béla Réthy meldete sich erst lange nach Abpfiff zu der Entscheidung der Spielfortführung, nachdem er mit Betroffenen gesprochen und die Hintergründe prüfen konnte. Innehalten und einziges Mal nichts meinen, spekulieren oder kommentieren. Ein Mensch erlangt vor (leider) laufenden Kameras sein Leben wieder. Wann lohnte es je mehr, eine Nacht über Urteile und Meinungen zu schlafen?

Hatte alles Kopf und Fuß

Puh, Relegation hat inzwischen auch seine eigenen Gesetze und dazu gehört ganz sicher, dass es Fußball der Marke Baumstammwerfen ist. Aber ok, es geht um Alles und nicht um Schönheit, wer also bei #KOEKSV eine Augenweide erwartete, hat den Pressschlag nicht gehört. Trotzdem ist nach Spiel eins festzuhalten, dass es Köln halt wie erwartet gemacht hat: irgendwie bemüht, irgendwie optisch überlegen und irgendwie mit Kampf, doch vor allem in puncto Kreativität bemitleidenswert. Aus dem Zentrum zudem kein Tempo und noch weniger Ideen. Fazit ist schlimm, aber leider klar: der Effzeh spielt im Rahmen seiner personellen Möglichkeiten.

Vor Holstein Kiel hingegen kann man nur den Hut ziehen. So viele Partien in so kurzer Zeit so erfolgreich zu absolvieren, ist ein Beweis für eine mental richtig intakte Truppe. Vor allem die fünffache Ohrfeige in Dortmund haben wir als Vorzeichen für eine fallende Leistungskurve gewertet. Doch statt Panik oder Aufgabe, hat Ole Werner die nordische Kühle in der Kabine bewahrt. Heute zwar nicht sonderlich gefährlich, doch das, was die Störche auf dem Grün fabrizierten, hatte immer Kopf und Fuß und wirkte äußerst unaufgeregt. Ja, ein Remis wäre ok gewesen, doch unverdient ist der Sieg (inklusive Lattenschuss) sicher nicht. Außerdem gibt es beim Baumstammwerfen kein Unentschieden.

Raus aus dem Schatten

Es ist nicht leicht etwas über Oliver Glasner und Eintracht Frankfurt zu sagen, geschweige denn vorauszusagen. Doch einzelne Kommentare, er sei ein typischer Werks-Elf-Coach ohne Ecken und Kanten, gehören in die Tonne. Seine Arbeit bei Red Bull, als Co-Trainer unter Roger Schmidt, ist zehn Jahre her und eine kurze Zeit bei Wolfsburg machen einen unscheinbaren Coach noch lange nicht zum Symbol eines Autokonzerns. Vielmehr rufen wir jedem Adler-Fan zu: Wer mit dem LASK in 161 Spielen durchschnittlich 1,97 Punkte holt, muss ein paar kluge Ideen in der Tasche haben. LASK, das bedeute damals Aufstieg nach Chaos und Konkurs und Europapokal nach Aufstieg. Auch das sind die Fakten hinter einem Mann, dem gerne das unrühmliche Klischee der schulbuchmäßigen Trillerpfeife angeheftet wird. Klar ist aber auch, dass der 46-Jährige nun das erste Mal ein Umfeld mit mehr Wucht und mehr Medienrummel bekommt. Sonnte sich Glasner bislang bei seiner Arbeit gerne im Schatten, muss er in Frankfurt sicher des Öfteren Rede und Antwort stehen. Die Bühne dafür hat er jetzt – und fußballerisches Know-how ganz sicher auch.

Ein Vertrag wie ein Sargnagel

Kurz über einen ausgiebigen Artikel bezüglich Julian Draxler nachgedacht, doch dann schulterzuckend abgelehnt. Es ist alles gesagt über falsche Berater, Selbstüberschätzung und schlechte Entscheidungen zu noch schlechteren Zeitpunkten. Haben ihn unter Magath live gesehen und einfach nur gestaunt. Seine erste Bude im DFB-Pokal gegen Nürnberg, pah, was für ein Wahnsinn! Was für ein Talent! Wie kann ein Junge so viel in die Wiege gelegt bekommen? Ein Übersteiger hier, ein doppelter da, zack, vorbei, schnell, kreativ, verwegen, alles beim ihm sah so verdammt leicht aus. Dieser Bub wird Deutschlands neues Wunderkind, da gab es von Kurve und Medien keine Zweifel.

Dann zwei, drei Mal falsch abgebogen, zu hoch gepokert, Schlangen im Ohr, Verletzungen in Serie, Hauptsache Quantensprünge statt step by step. In Gelsenkirchen zu viel Druck, doch selbst auch die „10“ gefordert, dann nur noch weg, in Wolfsburg ohne Glanz und Konstanz, in Paris meist auf der Bank. Von Löw zurecht nicht für die EM nominiert, wirkt die Vertragsverlängerung bei PSG wie ein Sargnagel. Karriere vorbei, denkt man. Über einen 27-Jährigen! Wer wird sich an Draxler in zehn Jahren erinnern? Über welche Titel und Erfolge wird man reden?

2011: Julian Draxler über den Köpfen von Papadopoulos und
Raúl. Zuvor hatte der 17-Jährige in Minute 119 den Siegtreffer erzielt und Schalke ins DFB-Halbfinale geführt.

Im Geld schwimmen und bei PSG kicken ist das Eine. Niemand wird sagen: Hey Jule, du hast in deinem Leben nichts erreicht, ganz im Gegenteil. Doch viele werden sich erinnern an dieses gewisse Etwas, das nur ganz, ganz Wenigen auf dieser Welt in die Füße gelegt wird, und dann denken: Was ist das im Endeffekt doch alles traurig. Wir gehören dazu.

Grillfest mit Extrawürsten

Obwohl es den „Störchen“ erlaubt ist, verzichtet Holstein Kiel also auf Publikum beim Saisonfinale gegen Darmstadt 98. Bei einem Spiel, in dem jeder Schrei und jedes Klatschen bei dem Husarenstück helfen könnte, als erster Verein Schleswig-Holsteins in die Bundesliga aufzusteigen. Das ist lobenswert wie heldenhaft, weil sich ein Verein die viel zitierten und x-fach durchgebratenen Extrawürste des Profifußballs während der Pandemie endlich einmal nicht auf den Teller legt. Und was machen andere Clubs? Statt die Saison demütig auslaufen zu lassen, werden kurz vor Ladenschluss die Schreibtische auf links gedreht, um irgendwie und möglichst maximal die Stadien mit Menschen zu füllen. Union Berlin öffnet 2000 Fans die Türen, Hansa Rostock erwartet über 7000, beim 1. FC Köln hofft man derweil inständig auf grünes Licht.

Was ist das nur für ein unsolidarisches Verhalten gegenüber all den anderen Vereinen, bei denen aufgrund zu hoher Inzidenzen kein einziger Fan auf den Rängen denkbar ist? Offenbar gibt es „den Fußball“ doch nicht im Kollektiv, von Demut gegenüber den Fans anderer Clubs ganz zu schweigen. Obendrein kommt dieser miese Beigeschmack der Wettbewerbsverzerrung und das Erhaschen eines Vorteils gegenüber direkten Mitkonkurrenten hinzu. Nun mag der oder die andere sagen, dass das doch lobenswert und als Dankeschön für die Fans nach so einer langen Pause zu verstehen sei. Diese Sichtweise teilen wir nicht. Vielmehr empfinden wir Fremdscham bei dem Gedanken, dass manche Verantwortliche am Ende des Tages doch wieder nur auf ihr eigenes Grillfest schauen. Sinkende Inzidenzwerte sind schließlich kein Verdienst von Fußballvereinen, sondern ein Ergebnis aus gesellschaftlichem Verhalten, medizinischer Versorgung und sozialem Engagement. Ein Dankeschön wäre nur dann glaubhafter Natur, wenn man auf alle Fans verweisen würde, um so einen großen gemeinsamen Startschuss am ersten Spieltag der kommenden Saison zu feiern. Denn „weder sollte der Profifußball für sich eine Sonderrolle in der Gesellschaft reklamieren – denn auch in anderen Veranstaltungsbranchen sind derzeit keine Zuschauer zugelassen – noch möchte die KSV Holstein eine Bevorzugung gegenüber anderen Sportvereinen im Land erfahren“, wie Kiel-Boss Schneekloth sagt.


Was wäre es doch für ein versöhnliches Zeichen gewesen, wenn sich alle Profivereine abgestimmt und dem Vorbild Holstein Kiels gefolgt wären. Ein einziges Mal die Füße stillhalten, ein einziges Mal nicht auf Paragraphen und gegebenes Recht schauen. Doch so zeigt sich nun die gleiche beschämende Erkenntnis wie schon zu Beginn von Corona: Wenn Extrawürste auf dem Grill liegen, stehen manche Verantwortliche mit gewetzten Messern bereit.

Als Kohfeldt hätte gehen müssen

Was die Gesamtentwicklung von Werder Bremen betrifft, bräuchte es mehrere Akten mitsamt Unterordnern. Vom familiären Selbstverständnis bis zum Malen nach ausschließlich schwarzen Zahlen wäre alles dabei bei den Gründen für dieses Drama kurz vor Ladenschluss. Einen Punkt möchten wir rückblickend nochmal wiederholen und das betrifft die erfolgreiche Relegation gegen Heidenheim in der letzten Saison. Es wäre der optimale Zeitpunkt gewesen, um mit Florian Kohfeldt getrennte Wege zu kommunizieren. Beide Seiten, Verein und Trainer, hätten diese Spielzeit als Gewinner verlassen. Das romantische Werder-Dogma, auf Gedeih und Verderb am Trainer festzuhalten, hatte sich schließlich trotz Nervenkitzel wieder einmal als erfolgreich herausgestellt, die Verantwortlichen hatten inmitten heftiger Sturmböen Ruhe bewahrt und gewonnen.

Nach zehn Bundesliga-Spieltagen ohne Sieg muss sich der SV Werder am letzten Spieltag einem Shootout stellen.

Ein besseres Momentum für einen sauberen Schnitt, inklusive Umarmung und Danksagung, hätte es nicht geben können, um auf Augenhöhe zu sagen: Danke für alles Florian, wir haben gemeinsam Berge erklommen und Täler durchschritten. Jetzt trinken wir zusammen ein frisches Haake, du wirst als gefragter Trainer deinen Weg gehen und wir stellen uns neu auf. All das wurde verpasst, ab dem ersten Spieltag der Folgesaison stand das Konstrukt Bode-Baumann-Kohfeldt zwangsläufig unter Beobachtung. An Baumann festzuhalten bedeutete an Kohfeldt festzuhalten bedeutete sich gegenseitig festzuhalten. Und wer nach einem haarscharf vermiedenen Abstieg kaum Veränderungen vornimmt und mit dem bekannten wie gefährlichen Es-wird-schon-irgendwie-gutgehen-Motto in die Saison startet, der darf sich über vorprogrammierte Skepsis nicht wundern.

Hinzu kam schließlich in der aktuellen Saison, dass Köln und Schalke Woche für Woche die Goldene Himbeere für die schlechteste Performance abräumten, die Klarheit über Werders ideenlosen Fußball kam medial kaum Ausdruck. Und das, obwohl es derselbe ideenlose Fußball war, der schon letzte Saison in die Relegation führte. Jetzt, wo sich ein einziges Schaaf auf dem Deich der Flut entgegenstellt, ist festzuhalten: Das 2:2 in der Relegation gegen Heidenheim war ein Geschenk des Himmels, um ohne Gesichts- und DNA-Verlust präventive Maßnahmen einzuleiten. Bode und Baumann haben diese Zeichen der Zeit verkannt und sollten sich jener Tatenlosigkeit mit Rücktritten stellen. Die Entlassung Kohfeldts nach dem 33. Spieltag ist dafür kein Argument, sondern ein Beweis.

Heute hier, morgen dort

Erstmal also das Corona-Nachholspiel zwischen Schalke und Hertha trotz Corona und Quarantäne. Dann das Pokalfinale an einem Feiertag und keinem Wochenende und erst um 20:45 Uhr statt wie früher um 20 Uhr, damit Kinder am nächsten Tag noch ausgeschlafener die Schule genießen können. Währenddessen startet Manchester United gegen Liverpool, ebenfalls ein Nachholspiel, nachdem am eigentlichen Termin viel Fans der Red Devils von machtversessenen Besitzern die Nase voll hatten. Samstag dann endlich wieder volles Rohr Bundesliga, alle zusammen und zeitgleich. Moment, geht ja gar nicht, Pokalfinale war ja erst vorgestern. So können auch Mainz und Wolfsburg erstmal ganz entspannt dem Treiben ihrer direkten Konkurrenten zuschauen.

Am 22. und 23. Mai dann endlich letzter Spieltag von erster, zweiter und dritter Liga, sodass Fans und Spielern 19 Tage bleiben, um sich optimal auf die EM vorzubereiten. Das können natürlich nicht alle von sich sagen. Am 26. Mai steigt nämlich nicht nur das Hinspiel der Bundesliga-Relegation, sondern auch das Finale der Europa League. Wer das verpassen sollte, kann sich beruhigen: Am 29. Mai findet neben dem Rückspiel der Bundesliga-Relegation auch das Champions-League-Finale statt. Dazwischen und danach gibt es am 27. und 30. Mai noch ganz geschmeidig die Relegation zur 2. Bundesliga.

Die Aufstiegsrunde zur 3. Liga, in der der Meister der Regionalliga-Nord auf den Sieger der Play-Off-Runde Bayern trifft, beginnt dann am 12. Juni, wenn zeitgleich Wales auf die Schweiz in Baku, Dänemark auf Finnland in Kopenhagen und Belgien auf Russland in St. Petersburg treffen. Und wenn am 19. Juni das finale Rückspiel um den Aufstieg in Liga drei stattfindet, messen sich in Budapest Ungarn und Frankreich, in Sevilla Spanien und Polen sowie in München Deutschland und Portugal. Dann Vollgas bis 11. Juli EM durchziehen, dann schnell den Rasen mähen und am 06. August wieder erste Runde DFB-Pokal und am 13. August wieder Bundesliga satt genießen. Gute Unterhaltung!

Abstieg: Wer bleibt und wer geht?

Wir als Orakel sagen euch, wie das Ganze in den nächsten Wochen am Tabellenende laufen wird. Vorab ist zu sagen, dass Köln und Hertha damit gesegnet sind – das muss man ganz ohne Häme so sagen – noch gegen Schalke spielen zu dürfen, die nach dem Abstieg und den Attacken gegen die Mannschaft ganz andere Baustellen haben, als gegnerischen Teams noch in die Suppe zu spucken. Es ergibt sich folgendes Bild:

KÖLN wird dieses Los gegen den S04 am letzten Spieltag dankend ziehen und spätestens dann den Klassenerhalt schaffen. So zerrockt und schlecht zusammengestellt der Kader des FC auch sein mag, so sehr haben sie das Momentum auf ihrer Seite. Funkel und so Typen wie Wolf passen auf dem Bierdeckel auch irgendwie zusammen, das ist rational kaum zu erklären und eben deshalb so goldwert im Abstiegskampf. Prognose: Siege gegen Freiburg und Schalke, Remis gegen Hertha und damit drin das Ding, 36 Punkte.

HERTHA steckt nach der Quarantäne logischerweise mit dem Kopf im Schraubstock. Doch es ist nicht nur ein Nachteil nicht eingreifen zu können, sondern auch ein Vorteil die Situation völlig klar vor Augen zu haben. Die Qualität im Kader ist nicht die eines Abstiegskandidaten, das große Problem in dieser Saison ist die teils völlig willkürlich zusammengestellte Truppe, fehlende Konstanz war deshalb nahezu mathematisch berechenbar. Durch den Druck von plötzlich punktenden Kölnern und Mainzern wird Dardei aber die richtigen Worte finden und die fehlenden Punkte in den fünf Spielen gegen direkte Konkurrenten holen. Prognose: Remis gegen Mainz, Köln und Freiburg, Siege gegen Schalke und Bielefeld, 35 Punkte.

(R.I.P. Krake Paul, Furche übernimmt demütig)

AUGSBURG hat mit der Entlassung Heiko Herrlichs die letzte Option gezogen und damit das absolut Richtige gemacht. Mit einem Kader, der in der Mische den stabilsten im Keller darstellt, brauchte es nun das letzte Ausrufezeichen von Seiten der Verantwortlichen. Nicht zu beschönigen ist indes trotzdem, dass die Entwicklung nicht nur ein Problem des ehemaligen Trainers, sondern auch ein Armutszeugnis für Stefan Reuter ist. Trotzdem: Weinzierl wird das Nötigste mit Spielern wie Caligiuri und Niederlechner auf das Team übertragen und die nötigen Punkte holen. Prognose: Remis in Stuttgart, Sieg gegen Bremen, Niederlage in München, 37 Punkte.

MAINZ wird es trotz des schwierigen Abschlussprogramms über den Strich packen. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass sie gerade gegen oben stehende Gegner erfolgreich agieren können. Beeindruckend war dabei, dass die Siege gegen Bayern und RB nicht durch bloßes Zerstören, sondern durch intelligenten Offensivfußball erreicht wurden. Das Team von Bo Svensson hat zudem den Vorteil, dass Neuzugänge wie da Costa und Kohr sofort funktionierten und für eine neue, nämliche breite Brust sorgten. Prognose: Remis gegen Hertha und Frankfurt, Sieg gegen Dortmund, Niederlage gegen Wolfsburg, 39 Punkte.

BIELEFELD wird den Relegationsplatz belegen. Es ist das einzige Team der im Keller bedrohten, das aufgrund fehlender Qualität an jedem Spieltag auf die Stärke oder Tagesform des Gegner angewiesen ist. Heißt: gegen überforderte Schalker war der Sieg verdient, ein Remis gegen ein durcheinander geratenes Augsburg das Maximum der eigenen Möglichkeiten, ein 0:5 in Mönchengladbach eine andere Liga. Der Trainerwechsel von Neuhaus zu Kramer bleibt eben deshalb eine berechtigte Frage, die auf der Alm bis heute nachwirkt. Trotz alledem ist das Restprogramm das vermeintlich einfachste und weil Hoffenheim und Stuttgart bereits alles egal sein wird, schaffen es die Arminen immerhin auf Platz 16. Prognose: Niederlage gegen Hertha, Remis gegen Stuttgart und Hoffenheim, 32 Punkte.

WERDER wird es diese Mal nicht packen und mit Schalke direkt absteigen. Baumann muss schon einen starken Baldriantropfen geschluckt haben, bevor er nun Kohfeldt das x-te Mal sein Vertrauen aussprach. Es war lange Zeit ein Segen für die Ruhe an der Weser, dass andere Teams in puncto Katastrophenfußball Woche für Woche die Schlagzeilen dominierten. Die Gewissheit kurz vor Ende plötzlich unten drinzustehen, ist psychologisch das Schlimmste, was einer Truppe zu diesem Zeitpunkt passieren kann. Hinzu kommt ein Trainer, der bedenkliche Niederlagen am Mikrofon mit „guten dreißig Minuten“ beantwortet. Das alles in Kombination mit Formschwäche sowie der Suche nach einer eigenen Spielidee wird Werder zum großen Verlierer der letzten drei Partien machen. Sollte Kohfeldt doch noch entlassen werden, ist der Zug für einen kurzfristigen Umbruch bereits abgefahren. Prognose: Niederlagen gegen Mönchengladbach und Augsburg, Remis gegen Leverkusen. 31 Punkte.

„Aufstieg adé?“ ist nicht die Frage

Wir möchten kurz für den #HSV eine kleine Lanze brechen. Und das tun wir nicht, indem wir das Auftreten in Sandhausen relativieren. Jeder halbwegs klare Fußballfan sieht, wie fußballerisch und psychisch instabil die Truppe auf dem Rasen derzeit wirkt. Doch das Apokalyptische und gar Abhakende von Vielerseits ist der Tick zu viel des Schlechten. Und damit meinen wir nicht Häme und Spott, die es gegenüber den vermeintlichen Goliaths im Fußball immer geben wird und auch irgendwie gesunde Kinder der Kurve sind.

Es geht um das mediale Kommentieren eines auf dem dritten Tabellenplatz stehenden Vereins. Nochmal: auf dem dritten, nicht auf dem vierten. Bei 15 offenen Punkten, in denen Fürth noch ans Millerntor und am letzten Spieltag zur Fortuna muss. Der Kicker ruft ein “Versagen auf allen Ebenen“ aus. Geht es nach der Sportschau, ist der Aufstieg so gut wie verspielt. Das wird alles aufgesetzt, indem jeder Pups eines Toni Kroos („Meine Güte, HSV…ehrlich…“) mit in die Analyse (Sportschau) eingebunden wird. Vor ein paar Wochen zog der HSV in Bochum eine eiskalte Nummer ab, da plötzlich ließ die große Raute laut Medien ihre Muskeln spielen.

Ja, der Wind hat sich gedreht und hört man unsere leidenschaftliche HSV-Furche Hanno Schäfer aus dem derzeitigen Tal schreien, so hört man auch viel Klarheit über die fehlende Qualität im Kader bzw. einbeinige Gjasulas heraus. Andererseits sendet der Tabellenkeller der ersten Bundesliga gerade wahrlich keine Anzeichen für ein stabiles Team in einer möglichen Relegation. “Aufstieg adé?“ (NDR) ist also noch keine Frage, bei jedem anderen Zweitligaverein wäre es nur ein weiterer Dämpfer im Aufstiegsrennen.

Bei dem “Desaster von Sandhausen“ (Kicker) fehlt offenbar einigen Journalisten der nötige Abstand zum letzten Spieltag der Vorsaison. Das Dramatische in Schlagzeilen – geschenkt. Schlecht ist dabei nur, dass die Tabelle und damit die Fakten außen vor gelassen werden. Und da hilft deinem Verriss auch kein Toni Kroos mehr, ganz im Gegenteil.

Ein Tag für die Geschichtsbücher

Was ein Tag gestern. Binnen Stunden bricht der ganze Super-League-Putsch in sich zusammen und es interessiert niemanden auch nur die Bohne, dass David Alaba inmitten dieses Sturms offiziell bei einem Club einen Vertrag bis 2026 unterschreibt,  der dann nach eigenen Aussagen seit zwei Jahren tot ist.

Petr Cech muss an der Bridge die aufgewühlte Meute beruhigen, Gary Neville sendet Herzen und stößt genüsslich mit Wein an, Jordan Henderson wird zum Feuerwehrmann der Herzen, Ed Woodward zum fliehenden Vice-Chairman. Und Kevin de Bruyne ist ein kleiner Junge aus Belgien, der einfach nur spielen will. Fazit soziale Medien: der Hype war schneller vorbei als bei Clubhouse. Abwarten. Vor allem auf die Saubermänner von UEFA und FIFA.

Nebenbei steigt Schalke nach dreißig Jahren Bundesliga in die zweite Liga ab und den armen Ulli Potofski traf das offensichtlich härter als manchen blau-weißen Spieler. Gerald Asamoah will man hingegen einfach nur umarmen. Football bloody hell! In jedem Fall wird es namentlich eine zweite Liga der Marke Super League.

Was war noch? Achso, die Druckerpressen der Corriero dello Sport liefen bereits, als die Super League in England in Flammen aufging. Inhalt des heute erscheinenden Aufmachers ist ein Interview mit Andrea Agnelli, warum die Super League superduper funktionieren wird. Vielleicht ist Print wie der gute, alte Fußball – nicht immer aktuell, aber mit der nötigen Romantik gesegnet.

Oh, Bergamore!

Seit der Corona-Pause das erste Mal wieder ein Spiel der Nerazzurri (gegen Brescia) gesehen. Es ist wirklich beeindruckend, was dort gerade passiert und sich nach Jahren kontinuierlicher Arbeit nun bezahlt macht. Ein Fußball zum Genießen, immer geht es über die Außen, selten braucht es mehr als zwei, drei Ballkontakte für die Überbrückung. Festes, sicheres Kombinationsspiel, das selbst bei völliger Ballkontrolle und in Führung liegend weiter nach vorne geht. Ohne Bedrängnis spielt niemand die Murmel nach hinten, keine bekloppten Eins-gegen-Eins-Situationen, Risiko ja, Harakiri nein. Zudem hat es den Eindruck, dass auf dem Platz untereinander vergleichsweise viel gesprochen wird.

Es macht einfach Laune dieser Truppe und ihrer offensiven Spielidee zuzuschauen. 7:1 gegen Udinese, 5:0 gegen Milan, 5:0 gegen Parma, 7:0 gegen FC Turin, 7:2 gegen Lecce und ein 6:2 gegen Brescia fallen nicht vom Himmel und sind nur Aushängeschilder der bislang 93 Tore in 33 Spielen. Nicht zu vergessen die acht Buden gegen Valencia im Champions-League-Achtelfinale. Keine zweite Meinung gibt es auch darüber, dass Bergamo beim jüngsten 2:2 gegen Juventus eigentlich als verdienter Sieger hätte vom Platz gehen müssen, hätte Schiedsrichter Piero Giacomelli in Minute 90 klare Sicht auf die Dinge bewahrt – die Meisterschaft wäre völlig offen gewesen. Und das alles mit einem Kader, dessen Marktwert mit rund 266 Million Euro zwischen Hoffenheim und Mönchengladbach rangiert.

Das in Summe macht Atalanta für uns zu keinem Favoriten, aber zu einem ernst zu nehmenden Anwärter auf den Champions-League-Titel. Wer das belächelt, sollte sich die Truppe dringend mal ein komplettes Spiel lang gönnen. Oder sich an Ajax 2018/19 erinnern.

Das Unmögliche möglich machen

Furche Heiko Rothenpieler zu 100 Jahren Betzenberg

Wie viele Stadien ist man angefahren, wie viele Spiele behält man in Erinnerung? Bei allen Groundhopping-Touren in der Welt oder Fanfahrten durch deutsche Stadien, ruft der Betze dann doch wieder das Besondere hervor. Vom ersten Besuch 1994 gegen den VfB Leipzig zum Beispiel, damals selbst neun Jahre alt und Jürgen Rische noch im gegnerischen Team, bleibt vor allem das extreme Auspfeifen des Gegners beim Aufwärmen in Erinnerung. Diese Lautstärke! Ein Neunjähriger vergisst das sein Leben lang nicht. Es entbehrte zudem jeder Logik, warum ein Verein, mit dem es überhaupt keine Rivalität oder Fehden gab, derart niedergemacht wurde. Die Auswechselspieler der Leipziger verlagerten ihre Dehnübungen in die Mitte des Feldes, weil sie an der Eckfahne durchweg mit Bierbechern beschmissen wurden. Ja, so etwas bleibt hängen in den ersten Stadionschritten des Lebens.

„JEDES MAL, WENN ICH KAISERSLAUTERN SEHE, GIBT ES FAUSTHIEBE UND RIPPENSTÖSSE. ES IST UNWÜRDIG, DAS LAND DER WELTMEISTER ZU VERTRETEN.“ (VUJADIN BOSKOV, TRAINER SAMPDORIA GENUA)

Es gehörte schlichtweg zur DNA des Betze, den Gegner von Beginn an in maximalem Ausmaß zu verunsichern, vor allem Torwarten galt alle Konzentration der Anfeindung. Kamen sie auch nur in die Nähe der Westkurve, war die Spielverzögerung wegen Wurfgeschossen oft vorprogrammiert. So werde ich auch nicht vergessen, wie Ordner mit Schneeschiebern und Besen in den Händen, Berge von Bananen aus dem Sechszehner von Oliver Kahn entfernen mussten, damit es endlich losgehen konnte. „Hölle Betzenberg“ sollte definitiv kein bloßer Slogan sein, sondern die offizielle Adresse des Teufels.

„IN KAISERSLAUTERN SPÜRTE MAN DEN HASS. WENN MAN DA ZU NAH AM ZAUN STAND, KONNTE ES PASSIEREN, DASS EIN ZUSCHAUER EINEN MIT EINEM SCHIRM DURCH DIE ABSPERRUNG STACH. HEUTE FAHREN DIE TEAMS IM BUS ZUM STADION, ABER DAMALS MUSSTEN WIR VORM SPIEL MIT DEN KOFFERN DURCH DIE MENGE. IN LAUTERN WURDE EINEM ANGST UND BANGE, DASS DIE EINEN ABSTACHEN.“ (FRANZ „BULLE“ ROTH)

Ich erinnere mich, wie bei Fritz-Walter-Wetter der Schiedsrichter lange vor dem Spiel mit Regenschirm aus seinem Auto stieg, in Richtung Katakomben ging und ihm ein Fan in weiser wie froher Erwartung zurief: „Den wirst du auch im Spiel brauchen!“ Auch so ein Bild, das ich immer mit Besuchen auf dem Betze in Verbindung bringe: Nach Halbzeit- oder Schlusspfiff eilen obligatorisch zwei, drei Ordner zu den Unparteiischen und beschützen sie mit aufgespannten Regenschirmen vor Wurgeschossen – selbst wenn sie ordentlich gepfiffen hatten.

„DAS IST DAS EINZIGE STADION, IN DEM ICH WIRKLICH ANGST HABE.“ (GERD MÜLLER)

Es ist überhaupt nicht kleinzureden, wie unfair und aggressiv es oftmals ablief, niemand kann das gutheißen oder beschönigen. Alles ging eben einher mit dieser völligen Selbsverständlichkeit: Wer auf unserem Berg punkten will, muss schon mehr liefern als fußballerische Klasse. Und darin lag auch immer der tiefsitzende Walter-Glaube, das Unmögliche möglich zu machen. Eben so, wie es die fünf FCK-Spieler beim Weltmeistertitel 1954 in Bern für alle Zeiten vorgelebt hatten. Diese feste Überzeugung brachte weit überlegene Gegner regelmäßig zu Fall, weil sie keine Mentalität auf Augenhöhe mitbrachten. Manchmal hatte man daher den Eindruck, dass gegnerische Teams nicht verloren hätten, wären sie nicht in Führung gegangen. Der Rückstand als Willensprobe, nicht mehr als ein Charaktertest und wehe dem im eigenen Trikot, der nicht bis zum Äußersten gegen ihn ankämpfte. Trotzdem lag über allem Agon die Bescheidenheit Fritz Walters.

„AM BESTEN SCHICKEN WIR DIE PUNKTE GLEICH MIT DER POST.“ (PAUL BREITNER)

Die Zeiten, in denen der FCK als gefüchtetstes Heimteam Deutschlands galt, gehören längst der Vergangenheit an. Die sportlichen Talfahrten lassen die einstige Bastion inzwischen wie ein poröse Sandburg erscheinen. Die Geschichten des Betze aber bleiben, weil sie nicht nur von extremer Atmosphäre, sondern auch vom Bruch mit jeder Wahrscheinlichkeit und vom ständigen Aufbegehren gegen vermeintliche Goliaths erzählen. 100 Jahre Betzenberg bedeuten auch 100 Jahre deutsche Fußballgeschichte. Dazu herzlichen Glückwunsch, 1. FC Kaiserslautern.

Der talentierte Mr. Marin

Es liest sich wie der Cliffhanger einer schlechten Daily Soap: Marko Marin wechselt erneut den Verein. Und wie bei einer TV-Serie mit überschaubarem Drehbuch, schalten sich immer wieder dieselben Zuschauer ein und spoilern das vermeintliche Ende des Protagonisten. Der Dreizeiler in der Programmzeitschrift: Der talentierte Mr. Marin verspielt weiterhin seine Karriere, ehe ihm Netz-Experten den richtigen Weg weisen. „Was eine Wurst!“, schreibt ein User über Marko Marin. Es ist einer der weniger böswilligen Kommentare über den Wechsel des Mittelfeldspielers von Roter Stern Belgrad zum saudischen Club Al-Ahli. Der Tenor ist, dass Marin schließlich in Belgrad angekommen sei und der Wechsel nach Saudi Arabien ein sportlicher Rückschritt sei, dem reine Geldgier zugrunde läge.

Die Last eines Überfliegers

Zugegeben, Marin macht am Mikrofon nicht immer eine glückliche Figur. Er bekennt sich schnell zu einem neuen Arbeitgeber und spart nicht mit Superlativen, wenn es um sein Wohlbefinden im neuen Verein geht. Das ist prinzipiell nicht verwerflich, doch vergehen, wie jetzt geschehen, nur Tage zwischen Marins Treueschwüren in Belgrad und plötzlichen Vereinswechseln nach Saudi-Arabien. Manchmal möchte man ihn einfach beiseite zerren und für viel Geld einen Spin-Doctor verpflichten. Die Kritik an seiner öffentlichen Handhabe ist nachvollziehbar und richtig.
Das ist aber auch alles. Der Umstand, dass ein Ü30-Spieler statt sportlicher Perspektiven abseits von europäischen Ligen noch einmal den Geldbeutel öffnet, war schon zu Zeiten George Bests ein völlig normaler Vorgang. Die ewig gleichen wie völlig deplatzierten Lacher über Marins Karriere basieren vielmehr auf den damals hohen Erwartungen, die er bis heute auf seinen Schultern trägt. In sämtlichen Auswahlmannschaften vertreten, in Gladbach und Bremen im Rampenlicht, haftete seinem Weg spätestens nach seinem Wechsel zum FC Chelsea der Ruf eines Überfliegers an.

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Dass ihm der Durchbruch an der Stamford Bridge nicht gelang, entfachte schon damals Kommentare, die vor Genugtuung trieften: Wer die große Kohle will, muss eben mit den Konsequenzen rechnen. Premier League ist körperlich halt eine andere Nummer, da haben Weicheier wie er nichts verloren. In Sevilla können es Schwalbenkönige wie Marin vielleicht doch noch zu etwas bringen usw.
Noch einmal zur Klarheit: Ein damals 23-Jähriger konnte sich gegen Spieler wie Juan Mata, Florent Malouda oder Eden Hazard nicht durchsetzen, das war alles. Dass ihm Chelsea keine weiteren Chancen einräumte und ihn trotzdem in den eigenen Reihen hielt, bescherte Marin eine fast ausweglose Situation voller Leihgeschäfte. Denn einerseits gehören Sevilla, Florenz, Anderlecht und Trabzonspor zum gehobenen Repertoire europäischen Fußballs, andererseits kommt da schließlich ein Hochtalentierter von der Stamford Bridge. Egal, wo Marin auch aufschlug: Chelsea war sein Vorname.

Die richtige Entscheidung

Für unzählige, hoch angepriesene Talente führte diese Tour zum Anfang vom Ende. Doch Marin verschlug es trotz weniger Einsätze nicht ins Dickicht zweiter Ligen oder privater Abstürze. Bei Olympiakos Piräus ließ er Chelsea endgültig hinter sich und gewann die griechische Meisterschaft. In Belgrad stellte er sein Spiel – auch dank seiner inzwischen gewonnen Erfahrung – um, gewann auch dort den nationalen Titel und avancierte zum Mannschaftskapitän. Es war vor allem diese Station, die ihm den nun lukrativen und wahrscheinlich letzten Vertrag seiner Karriere ermöglichte. „In Belgrad hätte er zu einer Legende werden können!“, schreibt ein User. Das ist nicht nur maßlos übertrieben, sondern auch Augenwischerei. Ebenso können ein Trainerwechsel oder eine kleinere Verletzung ausreichen, um einen Spieler im gehobenen Fußballalter schnell auf die Bank zu drücken, die Daily Soap um den talentierten Mr. Marin wäre weitergegangen. Jetzt aber ist Marko Marin endlich sein eigener Regisseur.

Zu viel des Schlechten

Ja, in Belfast lief nicht alles glatt und war vor allem in der ersten Halbzeit kein Zuckerschlecken. Doch wie am Tag danach darüber berichtet wurde, ließ einen Rückfall in Ribbeckschen Rumpelfußball vermuten. Sämtliche Titelzeilen konzentrierten sich auf das Wacklige, Ernüchternde und Quälende:

„Ein ernüchternder Sieg“ (ZEIT)
„Ein wackliger deutscher Sieg“ (FAZ)
„Deutschland nach Quäl-Sieg wieder auf EM-Kurs“ (BZ)
„Halstenberg löst die Schockstarre der DFB-Elf“ (DW)
„Deutschland müht sich zum Sieg gegen Nordirland“ (t-online)
„Noch mal davongekommen“ (SZ)
„Nordirland zeigt, wie tiefgreifend Löws Umbruch ist“ (Welt)
„DFB-Team quält sich nach schwacher 1. Halbzeit zum 2:0-Sieg in Nordirland“ (sport90)

Einzig Spiegel Online schaffte es zu der halsbrecherisch gewagten These: „Halstenberg und Gnabry schießen Deutschland an die Tabellenspitze“. Und natürlich darf bei aller Kritik der süffisante Hinweis nicht fehlen, dass man auf ein Land „mit nur 1,9 Millionen Einwohnern“ traf – ein Land „fast so groß wie Thüringen“.

Es ist die gleiche rhetorische Arroganz, mit der sämtliche Länder abseits der „großen Fußballnationen“ immer wieder als „Fußballzwerge“ abgewatscht werden. Und es sind die gleichen Stimmen, die nach dem 3:2-Auftaktsieg gegen die Niederlande „Wir sind wieder wer!“ posaunen. Niemand hat behauptet, dass nach personellen Halbrevolutionen um Hummels, Müller und Co. keine Probleme entstehen würden. Wie holprig so ein Wechsel sein kann, haben Italien und Spanien in Reinform vorgemacht. Wer also erwartet, dass die DFB-Elf über „Länder wie Nordirland“ hinwegsaust, weil „das ja der Anspruch sein sollte“, treibt im gleichen Gewässer aus Überheblichkeit und Anmaßung, in dem auch die DFB-Elf in Russland baden ging.

Zur Erinnerung: Es ist nur eine EM her, als es „Der Weltmeister!“ in der Gruppenphase gegen eben diese Nordiren nur zu einem 1:0 schaffte. Schon da kam es zu keinem 8:0 wie gegen Estland, bei dem noch vor ein paar Wochen in Mainz „die Mannschaft etwas versprühte, was lange vermisst war: Freude am Fußball.“ (Spiegel Online) Das wirklich Ernüchternde nach dem jüngsten Abend in Belfast ist nicht die erste Halbzeit gegen einen sich zerreißenden Gegner, sondern die Berichterstattung über ein Spiel, bei dem ein junges Team „nochmal davon kam“. Es geht nicht um die legitime Kritik an neunzig Minuten Fußball, sondern um einen auf das Schlechte reduzierten Grundton.

Ein Deal mit fatalen Zeichen

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Als Atlético Madrid 1951 Fritz Walter in seine Reihen holen wollte, erhielt der frisch gebackene Deutsche Meister aus Kaiserslautern ein Angebot über zwei Jahre. Schon damals beinhaltetet die Offerte mehr als die kardinalen Pfeiler Ablösesumme und Jahresgehalt. Hinzu wären für Walter diverse Prämien, ein Auto – und mietfreies Wohnen gekommen. Doch Walter blieb mit den legendären Worten am Betzenberg: „Dehäm is dehäm.“

Seitdem ist viel passiert in der schwer überschaubaren Welt der Deals. Auflauf- und Torprämien bekommt inzwischen jeder Oberliga-Kicker, bei den Profis handeln Spielerberater Verträge so dick wie Bibeln aus, Klauseln sind so durchtrieben wie die AGBs deutscher Mobilfunkanbieter. Da kann man den Kopf schütteln, darüber lachen oder es einfach als freie Marktwirtschaft akzeptieren – das Spiel selbst betraf es bislang kaum bis gar nicht. Deals waren eben Deals hinter den Kulissen, das Spiel dauerte weiterhin 90 Minuten und das Runde musste immer noch ins Eckige.

Seit dem Transfer von Vincenzo Grifo von Hoffenheim zurück zum SC Freiburg, gilt das nicht mehr. Für rund sieben Millionen Euro wechselt der Mittelfeldspieler fest ins Dreisamstadion. Der Clou: der Vertrag sieht vor, dass Grifo im kommenden Spiel gegen die TSG nicht auflaufen darf. Es ist also passiert: Spieler A darf nur zu Verein B wechseln, wenn er gegen diesen nicht spielt. Das sind keine rein finanziellen Deals mehr hinter den Kulissen, es geht nicht mehr um mietfreies Wohnen oder einen Sponsorenvertrag, sondern um aggressive Eingriffe in den Spielbetrieb.

Schreiten die Verbände bei solchen Vorstößen nicht ein und lassen den Transfermarkt seines freien Amtes walten, werden Deals wie von Grifo salonfähig. Andernfalls verliert der sportliche Wettbewerb auch noch das so wunderbar naive Elf gegen Elf, an dem sich der gemeine Fan trotz Ausbrüchen des modernen Fußballs immer noch festhalten konnte. Zuschauende könnten sich bei dem Kauf ihrer Eintrittskarte fortan nicht darauf verlassen, dass die besten Spieler ihres Teams auflaufen, sondern bloß die, die dürfen. Der Grifo-Deal setzt nicht nur ein klares Zeichen gegen die auf den Tribünen Stehenden und vor den Fernsehern Sitzenden. Er ist auch schlichtweg Wettbewerbsverzerrung.

(Für die Furche kommentiert: Heiko Rothenpieler)

Utopisches Altona

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Am Körper kleben noch immer die Klamotten aus der Nacht zuvor. Zwei nette Damen in Tickethäuschen aus der Steinzeit, ein bisschen Schnacken, entspannte Ordner, ja wirklich. Keine Schikanen, keine Kameras, keine Securitys aus McFit. Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist. Oder wenn es Holsten 0,5 gibt. Egal, einfach immer weiter, weiter. Sonne, Punkrock, grasbewachsene Stehtreppen auf Staub. Ein bisschen Sommerkick, ein bisschen Gekloppe, viel Hilfloses, wenig Schönes, einfach schön. Und gesunde Anklage: Warum tut man sich das ganz oben überhaupt noch an? Handspiel oder nicht, zehn oder zwanzig Millionen Gehalt, Niersbach ein falscher Zwanziger? Urlaub bei Altona 93 ist Urlaub für’s Gehirn. Und gelebte Utopie.

Die Journalie und der „Paukenschlag!“

PAUKENSCHLAG! Hören oder sehen wir dieses journalistische Monstrum eines Klingelwortes, denken wir sofort an irgendetwas nahe der Apokalypse. Mindestens an einen Transfer von Roman Weidenfeller als Torwarttrainer zum FC Schalke 04. An alles außerhalb unserer Vorstellungskraft eben. Denn das bedeutet er ja schließlich, dieser PAUKENSCHLAG! Er betritt die Mitte des Raumes nicht nur völlig überraschend, nein, nein, er kommt auch so brachial dahergeflogen wie eine Kopfnuss von Jaap Stam.

Genau diesen Cocktail aus Unvorhersehbarkeit und Kraft hatte der hofgeile Haydn wohl im Kopf, als er seine 94. PAUKENSCHLAG-Sinfonie komponierte. Mit so viel Wumms hatte damals am Ende des 18. Jahrhunderts nun wirklich niemand gerechnet, sodass das Werk in England wenig überraschend den Namen „The Surprise“ (Die Überraschung) bekam. Und heute? „PAUKENSCHLAG! Neymar als Kapitän entmachtet“ (sport.de) Für so einen Witz an PAUKENSCHLAG hätte der alte Haydn nicht mal eine Triangel verliehen! Der gepaukte Aufhänger ist so über alle Maßen ausgelutscht und deplatziert wie der vor Egozentrik triefende Twitter-Zusatz „Hier mein Text zu…blabla. Habe mit Gott gesprochen, 90 Minuten Hardcore, echte Gefühle, ich bin der Geilste, glaubt mir [bitte!].“

Wo wir gerade bei unangenehmen Kabinenansprachen zum Thema Hilflosigkeit in Überschriften sind, schlägt es just in diesem Moment in unseren Gehirnen ein: „PAUKENSCHLAG! Eurosport hat seine Rechte an DAZN verkauft!“ (krone.at) Kurz zitterte das Gemüt, als habe Admiral Dönitz wieder zum „Unternehmen PAUKENSCHLAG“ getrommelt. Aber nein, wir haben nicht 1942 und statt Eisernen Kreuzen werden nur ein paar erbärmliche Klicks verteilt. Da sehen wir gerne wie gesättigt ein, dass es sich bei PAUKENSCHLÄGEN in der Titelzeile um keine Volltreffer, sondern um harmlose Leuchtraketen handelt. Weckt uns, wenn Weidenfeller in Gelsenkirchen gesichtet wurde – mit Pauke natürlich.

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Wie der erste Kuss

Jetzt mal eine Nacht drüber geschlafen und gleich mehrere Erkenntnisse bekommen. Union Berlin steht völlig zurecht das erste Mal in der ersten Bundesliga. Was ein Satz. Das erste Mal Bundesliga! Wir wissen alle, wie er war, der erste Kuss. Ort, Zeit, Alter, morgens, nachts, Sommer, Winter, ob Bienen summten oder es bewölkt war, ob es nach Sonnenblumen roch oder nach Kuhmist. Das erste Mal, ob einfach nur schön oder ein Kraftakt mit Nervenzusammenbruch – unvergesslich, unvergleichlich. Wer 180 Minuten so viel Leidenschaft bietet, hat diesen Kuss verdient. Die Alte Försterei wird bei jedem Spiel pickepackevoll und für Gästefans so etwas wie ein wohliger Ausflug zum kleinen Celtic des Ostens sein. Und der sympathische Urs Fischer wird die Pressekonferenzen mit Ehrgeiz und Demut in Streich’scher Manier bereichern.

Das Schönste aber bei dieser ganzen Geschichte ist, dass so etwas im modernen wie perversen Fußballgeschäft überhaupt noch möglich ist. Dass ein Stadion, bei dessen Umbau 2333 Fans ehrenamtlich anpackten von niemandem außer sich selbst repräsentiert wird. Es ist die Romantik dieses Aufstiegs, die Nostalgikern die Erkenntnis schenkt: Ja, es ist immer noch möglich! Und ja, es geht auch ohne Telekom, Gazprom oder Red Bull! Ein einziger, langer, feuchter Kuss mit Zunge.

Der VfB Stuttgart hingegen hat – vor allem im Kreise der eigenen Logen – von Saisonbeginn an in beeindruckender Art einen Weg eingeschlagen, der sich am Ende folgerichtig als Sackgasse offenbarte. Trainer Willig tut einem nach Schlusspfiff ebenso leid wie Christian Gentner, der mit seinem VfB seit 1999 wirklich alles erlebt hat. Das Spiel selbst hat vieles bestätigt, was sich die ganze Spielzeit immer wieder zeigte. Keine herausgespielten Chancen, kein Flügelspiel, keine Dreiecke, nur Holger mit Hoch und Weit. Aogo, Gomez, Esswein, Badstuber, Castro, Zieler – namentlich fühlt sich der Verein irgendwie nach Bundesliga an, doch irgendwie auch nach Ersatzbank ebenda. Deswegen trifft dieses Teamkonstrukt auch weniger Schuld als diejenigen, die es zusammenschusterten. Für die Fans in jeder Hinsicht ein Albtraum. Sie vor allem sehen, dass ein Wiederaufstieg mit Hannover, dem HSV plus drei, vier weiteren Teams kein Selbstläufer wird. Aber hey, das wissen Slomka und Kühne auch. Lebbe geht weida, liebe Cannstätter!

Ein Pfiff, ein Tor, Lebensgefahr

3:41 Uhr. Während in der ARD mit „Deutschlandbilder“ bereits das Nachtprogramm für Untote läuft, geht es in 10000 Kilometer Entfernung um nichts geringeres, als den Einzug ins Finale der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Pendant zur europäischen Champions League.

saxaxaaxaxa

Grêmio Porto Alegre empfängt die argentinischen Gäste von River Plate. Gut, dass es in Strömen regnet. So können einige der 60000 Gemüter am Rande der Kernschmelze abgekühlt werden. Was Sie hier sehen, meine Damen und Herren, ist das Spielende in Minute 103. – ohne Verlängerung. River Plate drehte das Spiel nach 0:1-Rückstand binnen zehn Minuten in ein 2:1. Wer man jetzt sein möchte: Gonzalo Martínez, Siegtorschütze. Wer man jetzt nicht sein möchte: Andrés Cunha, Schiedsrichter. ‚Meld dich freiwillig, haben sie gesagt. Schiri ist ein guter Job, haben sie gesagt‘ – spätestens, wenn du kurz vor Ladenschluss einen (berechtigten) Handelfmeter gegen das Heimteam gibst, bist du dir nicht mehr ganz sicher mit all dem, was sich da Karriere nennt. Südamerikanische Seelen sind in solchen Situationen bekanntlich etwas weniger reflektiert und nicht gerade bekannt für diplomatische Kühle.

Bressan, Verursacher des Elfers, bekam sich überhaupt nicht mehr ein und balgte sich minutenlang mit einem der Linienrichter. Popcorn-Kino vom Allerfeinsten. Die Bundesliga-Buddys Pedro Geromel (Grêmios Kapitän) und Frankens Fußballgott Javier Pinola unterhielten sich derweil mit all ihrer Erfahrung über die ganz großen Abstiegskampfpartien zwischen FC und FCN. Der Rest flog völlig frei über das Kuckucksnest und pochte auf die Ausgrabung des Kriegsbeils. Kurz gesagt: ein Pfiff, ein Tor, Lebensgefahr. Offizielle informieren Schiedsrichter Cunha noch vor Beginn der 13 Minuten Nachspielzeit darüber, dass zu seinem Schutze bereits das Militär im Anmarsch ist. ‚Cool! Danke!‘, wird sich Cunha wahrscheinlich gedacht haben. Oder einfach nur ‚Fuuuuuck!‘.

Wir haben null Ahnung, wer dieser Andrés Cunha ist. Hoffentlich kommt er gut nach Hause (das hoffentlich noch steht). Typen wie ihm gehört unsere volle Hochachtung. Jetzt erstmal „Deutschlandbilder“ von oben und ein Hagebuttentee. Puh, war das alles aufregend.

hrp

Ihr wackeren Ritter!

Pass in die Gasse #133

WM 2018: Stagnation des Kreativen

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„Wie man in Frankreich so sagt – eine Renaissance“ frohlockte Béla Réthy. Das war die WM wahrlich nicht. Aus fußballerischer Sicht hat das Turnier die Stagnation des Kreativen bestätigt, die schon bei der EM 2016 nur schwer zu ertragen war. Werbung für das „Spiel“ Fußball fand nur selten statt, Partien zwischen Belgien und Japan blieben die Ausnahme, Dramaturgie und Spannung fingen viel auf, was eigentlich die Off-Taste verdient gehabt hätte.

Das Finale hat dann noch einmal jenen Fußball bestätigt, der von Beginn an aufstieß und von chronischer Theatralik begleitet wurde. Schauspielerei und Arroganz mag man an Neymar festgemacht haben, wurden aber ebenso bei vielen anderen Darstellern mehr zu Tugend als Mittel zum Zweck. Das nervt nicht bloß in einer Spielsituation, sondern holt auch jene Zuschauer aus ihren Löchern, die sich den Fußball „von früher“ herbeisehnen. Schwalben wie die von Griezmann führen dann leider dazu, dass die Glückwünsche an diese großartige Fußballnation Frankreich eher bescheiden ausfallen.

„So ist Fußball“ heißt es dann gerne. „Die waren halt cleverer“ wird gerne hinzugefügt. Was zu diesen Mätzchen eigentlich gesagt werden sollte, fasste Béla Réthy in einem seiner wenigen Glücksmomente zusammen, als er Matuidis Gänsemarsch bei dessen Auswechslung als „peinlich“ kommentierte. Mit welcher Art Fußball ein Team Weltmeister wird, steht natürlich nicht zur Debatte. Was Rehhagels Griechen 2004 in Portugal bis zu ihrem Titel in Sachen Fußball anboten, tat den Augen auch nicht gerade gut. Fairplay musste deshalb trotzdem nicht an vierter oder fünfter Stelle stehen.

Der Videobeweis hat neue Freunde gefunden, aber auch Kritiker bestätigt. Mitverantwortlich ist dafür die weiterhin katastrophale Auslegung von Handspielen. Urs Meier manifestierte: „Entscheidend ist zuallererst, ob die Hand zum Ball geht oder der Ball zur Hand.“ Wie es nach dieser Auslegung bei Perišić‘ Handspiel zu einer „klaren Entscheidung“ kommen kann, ist rätselhaft und vor allem – entscheidend. Warum Pogbas mögliche Abseitsposition beim 1:0 nicht hinterfragt wird, obwohl er in die Situation aktiv eingreift und Mandžukić von hinten schiebt, ist ebenfalls nicht nachvollziehen. Die Liste positiver wie negativer Videobeweis-Auslegungen bleibt konstant lang. Fest steht nur, dass die Verantwortlichen der Bundesliga ihre Kladde nun voll mit Notizen haben müssten, was im Ligabetrieb besser laufen sollte. Und überhaupt deutscher Fußball: ach, egal.

Kommt alle gut raus aus der WM. Wir müssen Montag schließlich alle arbeiten.

Vom Grenzgänger zur Statue

Italiens Torwart-Legende Gianluigi Buffon wird 40 Jahre alt

Als 1997 ein junger Lulatsch mit schwarzen, gegelten Haaren plötzlich das Tor der stolzen italienischen Fußballnation hüten sollte, trauten viele Menschen vor den TV-Geräten ihren Augen nicht. Warum nur trug dieser schmächtige Kerl kurze Hose und kurzes Trikot? Abgesehen davon, dass Torwarte seit über hundert Jahren lange Kleider trugen, fand das Spiel obendrein Ende Oktober statt – in Moskau. Auf dem russischen Rübenacker mit einem Hauch von Schneelawine lief die 33. Spielminute, als Italiens etatmäßiger Torwart Gianluca Pagliuca schmerzverzerrt vom Platz hinkte. Für ihn kam: Gianluigi Buffon. Erst zwanzig Jahre später sollte „Gigi“ diesen Platz wieder räumen – als einer der Größten in der Geschichte des Fußballs.

Zwischen Jahrhunderttalent und Tölpel

Dabei hatte Buffon in seinen Anfangsjahren als Profi besonders abseits des Platzes Startschwierigkeiten, was vor allem an den Versuchen einer prolligen Außendarstellung zu beobachten war. Bei „Gigi“ ging dieser Versuch jedoch ordentlich daneben, als er darauf pochte, die Trikotnummer 88 auf seinem Rücken zu tragen. „Weil sie vier Eier hat“, wie er damals meinte. Und die bräuchte man schließlich im Fußball. Dass die 88 als rechtsradikales Schlüsselsymbol gilt und für „Heil Hitler“ steht, wusste er nach eigener Aussage nicht und setzte dem ganzen Skandal noch eine Krone auf: „Das können doch echt nur Nazis wissen!“ 2001 musste Buffon 6300 Euro zahlen, weil er sich in Parma mit einem gefälschten Abiturzeugnis zum Jura-Studium eingeschrieben hatte. So war der junge Gigi, irgendwo zwischen Jahrhunderttalent und Tölpel.

Doch im Gegensatz zu anderen Skandalnudeln der Branche überragte sein sportliches Können alles und Juventus Turin ließ sich diese Qualität im gleichen Jahr 53 Millionen Euro kosten. Zum Vergleich: Zehn Jahre später überwies Bayern München 30 Millionen Euro für Manuel Neuer an Schalke 04. Bis heute wurde nie wieder eine höhere Summe für einen Torwart bezahlt, als die für Buffon. Nach 220 Spielen für den AC Parma, sollten bis heute 638 für Juventus folgen, die ihm alle nur erdenklichen Gewinne und Preise einbrachten. Fünf Mal wurde er zum Welttorhüter gekürt, vier nationale Pokalsiege und acht italienische Meistertitel reihen sich neben dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2006 ein. Nur den „Henkelpott“ der Champions League konnte er trotz dreimaliger Finalteilnahme nie in seinen Händen halten. Doch es waren nicht bloß Titel, die Buffon zur heutigen Galionsfigur aufstiegen ließen, sondern immer auch seine Gesten des Anstands.

In kurzer Hose auf weißem Marmor

Besonders in Augenblicken des Sieges verkörpert Buffon stets den professionellen Sportsmann par excellence. Immer fair und respektvoll gegenüber dem Gegner, Selbstkritik gepaart mit Optimismus, ehrgeizig und doch realistisch: neben den Erfolgen werden sich Fußballfans weltweit eben an diese Eigenschaften seiner Karriere erinnern. Daran, wie das italienische Publikum beim entscheidenden Qualifikationsspiel während der schwedischen Hymne zum gellenden Pfeifkonzert ausholte und Buffon sich gestikulierend und demonstrativ klatschend dagegenstellte. Daran, wie er Juventus nach dem Manipulationsskandal 2006 die Treue hielt und den schweren Weg des Zwangsabstiegs in Liga zwei mitging. Daran, wie er nach über 170 Länderspielen und verpasster WM-Qualifikation auf dem Spielfeld Wasserfälle weinte wie ein trauriger Junge. Und an den vierfachen Vater, der das Familienleben aus der an Boulevardblättern nicht armen italienischen Presselandschaft heraushielt.

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Mit nun vierzig Jahren neigt sich Buffons sportliche Karriere dem Ende, bei Juventus verfolgt er die Spiele vermehrt von der Ersatzbank aus. Eine Karriere, die als pubertärer Grenzgänger begann und als bedeutende Persönlichkeit des Sports enden wird. Für eine Statue sollte es jedenfalls reichen. Schließlich erblickte Buffon in Carrara, der Stadt des berühmten weißen Marmors, aus dem Michelangelo einst seinen David erschuf, das Licht der Welt. Keine schlechten Voraussetzungen für ewiges Dasein – natürlich in kurzer Hose und kurzem Trikot.

hrp