„Packen sie es, machen sie aus Wembley Woodstock“

+++ Spoiler: Es folgt ein Text voller Fisch-Phrasen, Meertaphern und abgedorschenen Kaalauern +++

Wir gestehen vorab: wir lieben Grimsby. Obwohl das nicht so ganz richtig ist. Korrekt wäre zu sagen: wir lieben die Fans von Grimsby. Und die werden heute alle so heiß sein wie frittierter Fisch. Denn als erster Viertligist in der 152-jährigen Geschichte des FA Cups schlug Grimsby Town FC fünf höherklassige Teams und steht im Viertelfinale. In der letzten Runde hatten die Mariners mit einem 2:1-Sieg beim Erstligisten Southampton ein Wunder vollbracht. Mit an Bord hatten sie 4000 durchgeknallte Fans, denen 720 Km an einem Mittwoch eine Selbstverständlichkeit waren. Wie sich das anfühlte? Seht selbst via Twitter: https://t1p.de/kvsgq

Nun scheint dies auf den ersten Blick nicht so unglaublich und ungewöhnlich. Der Pokal hat schließlich seine eigenen Netze und Wunder gibt es immer wieder. Doch schaut man sich Grimsby und seine Fans unter der Lupe an, erkennt man elementare Unterschiede zu vielen anderen kleinen Fischen. Denn was oberflächlich als das klassische Märchen eines Underdogs erscheint, ist unterhalb des Meeresspiegels eng mit einer Geschichte des Verlierens abseits von Fußballplätzen verbunden. In Grimsby zu leben heißt landesweit dem Klischee der Zahn- und Ahnungslosen zu entsprechen. Außenseiter zu sein kennen die Grimsbarians also nicht nur aus dem FA Cup.

Es ist aber nicht der Millwall-Mittelfinger, mit dem gegen Gott, West Ham und die Welt gekämpft wird. „No one likes us, we don’t care“ ist nicht das Bild, das die Fans der Mariners verkörpern. Stiernacken und Schlagring weichen hier aufblasbaren Fischen (und Krabben, Dildos, Kakteen, Rollatoren). Außenseitertum wird hier nicht mit nacktem Hass sondern Humor gefüttert, sich selbst nicht ernst sondern aufs Korn zu nehmen, ist die einzige Lösung. Diese Selbstironie ist das Rezept für den Alltag, denn während sich anderswo im britischen Fußball alles um die Frage nach Optimierung dreht, geht es für viele Fischer der 90.000-Einwohnerstadt ums Überleben.

Auch deshalb wirkt Fußball in Grimsby wie eine Wundsalbe. Und die Wunden könnten nicht größer sein. Einst war Grimsby die bedeutendste Fischereistadt des Königreichs, in den 50er Jahren gar der größte Fischerhafen der Welt, die Fischer nannte man „Three Day Millionairs“. Und die gaben ihr Geld nicht in London oder am Strand von Brighton aus, wo Lords und Ladies flanierten, sondern ließen es in Grimsby. Stadt und Bürgern ging es prächtig, Stolz und Identifikation gaben sich die Flosse. Was für eine Zeit, petri geil!

Und heute? 70 Prozent der Grimsbarians stimmten für der Brexit, obwohl die Menschen dort traditionell die Labour-Partei wählen und die Gegend in Großbritannien als „Rote Wand“ bekannt ist. Boris Johnson machte sich den Frust der Fischer zum Nutzen: endlich nicht mehr abhängig sein von Brüssel, dachten sich viele auf Grund gelaufene Seelen. Inzwischen ist die Stimmung wieder anders, von den Tories fühlen sich viele betrogen und benutzt. Dem Versprechen des Aufschwungs folgten Ernüchterung und Aufgabe, Alkoholismus ist ein trauriges Thema. 2019 wurde Grimsby zum „worst place to live in the UK“ gewählt. Wer in dieses Thema tiefer abtauchen möchte, dem empfehlen wir ein Arte-Doku über die Fischer von Grimsby: https://t1p.de/actyy

Umso mehr ist nachvollziehbar, welch wichtigen Platz der Fußball hier einnimmt. Das kennt man in Deutschland aus dem Ruhrgebiet, wo Fußball früher zwischen all den Schloten über Generationen hinweg die einzige Sehenswürdigkeit war. Und was sagen die Pöttler heute noch gerne wie heimatliebend? Woanders is‘ auch scheiße!

Natürlich hingt der Vergleich ein wenig, doch ob Zechenschließungen oder kaputte Fischernetze: Strukturwandel bringt nicht nur Chancen, sondern für sehr viele Menschen auch Leid. Dennoch ändert es zwar das Leben der Menschen, doch nicht ihre Liebe zur Heimat. Das hat auch Kollege und „Junge aus Castrop“ Ron Ulrich erlebt, als er 2020 für eine 11Freunde-Reportage ein Wochenende in Grimsby verbrachte. Kurz vor dem heutigen FA-Cup-Highlight fragten wir ihn rückblickend:

Ron Ulrich, als Sie damals aus Grimsby zurückkehrten, grinsten Sie drei Tage lang durch. Was hatten die Menschen dort mit ihnen gemacht? „Was mir am englischen Fußball und an Grimsby speziell immer so imponiert, ist diese Natürlichkeit, mit der sich alle selbst auf die Schippe nehmen: We only sing when we‘re fishing / clap, clap fish oder der sensationelle Titel des Fanzines Cod Almighty (allmächtiger Kabeljau). Hier in Deutschland reagierten auch viele etwas befremdlich auf die Schilderungen und Fotos meines Besuchs. Doch die Leute in Grimsby haben es sich übersetzen lassen und fanden es total super. Grimsbarians sind einfach sehr herzlich, selbstironisch und ekstatisch beim Feiern. Wenn sie es wirklich packen, machen sie aus Wembley Woodstock!“ Seinen Ritt könnt ihr hier in Gänze nachlesen: https://t1p.de/jkmhj

Heute werden erneut die Segel gesetzt. Der Gegner kommt wieder aus Liga eins und heißt Brighton & Hove Albion, wieder sind es 720 Km, nur die Zahl der Grimsbarians wird noch größer sein. Der daheimgebliebene Rest wird ab 15:15 Uhr die Pubs in Grimsby füllen oder an der Mündung des Humber sitzen und zum Klabautermann beten. Für Halbfinale, Fisch und eine bessere Zukunft.

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